Worum geht es?
Seit gut zwei Wochen mehren sich die Berichte über einen verstärkten Aufmarsch russischer Truppen entlang der Grenzen zur Ukraine, den sogenannten „Volksrepubliken“ der „Separatisten“ in der Ostukraine und auf der von Moskau annektierten Krim. Videos in Sozialen Medien zeigen Verlegungen von Kampfpanzern, Panzerartillerie und Pionierpanzern auf Zügen und Kolonnen von Schützenpanzern, Truppentransportern und Feldartillerie. Andere Videos zeigen Kampfhelikopter, Flugabwehrsysteme und logistisches Material wie etwa Tanklastwagen oder mobile Lazarette. Zwar lässt sich nicht in jedem Fall Datum und Ort der Aufnahmen zweifelsfrei belegen, in der Summe sprechen die Bilder jedoch eine eindeutige Sprache. Die dort transportierten Waffensysteme inklusive der dazugehörigen Logistik sprechen nicht für einen territorial begrenzten Einsatz. Die regierungskritische russische Zeitung Kommersant berichtete sogar, dass die Transportkapazitäten für zivile Güter angesichts des massiven Aufmarsches zunehmend knapp werden. Erschwerend hierzu vermeldet auch die Beobachtungsmission der OSZE eine wieder zunehmende Zahl an Verletzungen des Waffenstillstands und Stationierungen schwerer Waffen in den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten. Dies wird auch von russischer Seite nicht grundsätzlich bestritten. Stattdessen verweist Moskau auf seit längerem geplante Manöver sowie darauf, dass es auf seinem Territorium Militärgerät nach eigenem Ermessen bewegen könne. Zudem mache ein angeblicher ukrainischer Aufmarsch eine Intensivierung der Verteidigungsmaßnahmen erforderlich. Was jedoch im Unklaren bleibt, ist das Ziel der russischen Mobilisierung.
Ein direkter Angriff der Ukraine auf russisches Gebiet ist angesichts des eindeutigen Kräfteungleichgewichts jedoch mehr als unwahrscheinlich. Auch eine Bedrohung durch die NATO-Übung “Defender Europe 2021” kann ausgeschlossen werden, da diese gar nicht in der Ukraine stattfindet. Von russischer Seite wird gelegentlich auf das Dekret 117/2021 des ukrainischen Präsidenten zur Umsetzung des Beschlusses des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine vom 11. März 2021 verwiesen. Dieses beinhaltet die Umsetzung eines Strategiepapiers zur „De-Okkupation und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“. Wer das Dokument jedoch aufmerksam liest, stellt fest, dass dieses keinerlei bewaffnete Wiedereingliederung vorsieht, sondern vielmehr eine Reihe administrativer Maßnahmen bekräftigt, die ohnehin seit der militärischen Besetzung der Krim durch Russland praktiziert werden. Zumeist handelt es sich um lediglich theoretische Maßnahmen – wie etwa die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen und anderer Rechtsverstöße auf der völkerrechtswidrig besetzten Krim – die für die Ukraine derzeit faktisch undurchführbar sind. Eine wie auch immer geartete, tatsächliche Bedrohung für Russland erwächst aus dem Strategiepapier nicht.
Mögliche Beweggründe
Der naheliegendste Beweggrund Putins ist in der russischen Innenpolitik zu suchen. Im Herbst finden in Russland Parlamentswahlen statt. Umfragen zufolge drohen seiner Partei „Geeintes Russland” Stimmenverluste. Eine Inszenierung als starker Mann, kommt Putin daher gelegen. Als ebenso wahrscheinlich darf gelten, dass die Maßnahmen der russischen Regierung darauf gerichtet sind, die Entschlossenheit der neu gewählten US-Administration zu testen. So wird sich anhand deren Gegenreaktionen entscheiden, welche weitergehenden strategischen Ziele die russische Regierung verfolgt. Zu diesen gibt es verschiedene Theorien.
Zum einen könnte durch eine Provokation militärischer Zusammenstöße zwischen dem ukrainischen Militär und den von Russland finanziell und militärisch unterstützten „Separatisten“ eine Integration der sogenannten „Volksrepubliken“ in die russische Föderation beschleunigt werden. Denkbar wäre beispielsweise, dass russische Truppen künftig zur Friedenssicherung in den besetzten Gebieten stationiert werden und damit die Präsenz des russischen Militärs gerechtfertigt werden soll. So verbreiten russische Medien wie der halbstaatliche, regierungstreue „Perwy kanal“ („Erster Kanal“) seit Tagen die Geschichte vom angeblichen Tod eines Jungen in den besetzten Gebieten durch einen Drohnenangriff ukrainischer Truppen. Einen Beleg dafür gibt es nicht. Dennoch droht Moskau mit einem Eingreifen, um „menschliche Katastrophen“ zu verhindern. Außerdem verteilt Moskau seit Monaten hunderttausende russische Pässe an die Bevölkerung im Donbass und betont zugleich, dass es die Sicherheit der (nun) russischen Bevölkerung schützen müsse. Ein „Hilferuf“ der von Moskau abhängigen und international nicht anerkannten „Volksrepubliken“ könnte auch als Rechtfertigung für einen Beitritt beider Gebiete zur Russischen Föderation dienen, der später durch ein angebliches Referendum nach dem Vorbild der Krim scheinlegitimiert wird.
Auch die Krim selbst könnte der Anlass für den derzeitigen russischen Aufmarsch sein. So leidet die Halbinsel seit der völkerrechtswidrigen Annexion 2014 an zunehmendem Wassermangel. Grund dafür ist, dass die ukrainischen Behörden den Nord-Krim-Kanal – der früher bis zu 85% des Wasserbedarfs der Krim deckte – inzwischen blockiert haben. Grundsätzlich denkbar wäre daher auch, dass ein Vorstoß bis zum Fluss Dnepr das Problem der Wasserknappheit lösen soll. Auch die Herstellung einer Landverbindung von der „Volksrepublik Donezk“ über die Hafenstadt Mariupol, Melitopol bis zur Landenge von Perekop dürfte langfristig durchaus im Interesse Russlands liegen. Anders als noch in der unübersichtlichen Lage des Jahres 2014 dürfte diese Ziele gegenwärtig aber nur durch eine offene militärische Intervention zu erreichen sein, in deren Fall Russland mit empfindlichen Gegenmaßnahmen der Staatengemeinschaft zu rechnen hätte. Folglich erscheinen auch andere Motive, wie etwa eine Zerschlagung der Ukraine und die Abtrennung des als „Noworossija“ bezeichneten Teils um die Großstädte Charkiw, Dnipro, Saporischschja und Odessa aktuell wenig realistisch. Womöglich weiß Putin, den der Tagesspiegel vor Kurzem als „Gelegenheitsdieb“ bezeichnete, selbst noch nicht, wie weit er geht. Entscheidend dafür wird sein, wie weit ihn der Westen gewähren lässt.
Europa ist am Zug
Somit stellt sich die Frage, wie sich die westliche Staatengemeinschaft zum russischen Vorgehen positionieren sollte. Während der US-Präsident Biden und sein britischer Kollege Johnson deutlich an die Seite der Ukraine gestellt haben, hat der deutsche Außenminister zusammen mit seinem französischen Kollegen in einer gemeinsamen Stellungnahme zwar die „Unterstützung für die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine“ bekundet und dabei die russischen Truppenbewegungen angesprochen, zugleich aber die nicht näher benannten „Parteien zur Zurückhaltung und sofortigen Deeskalation“ aufgefordert. Insbesondere Deutschland scheut sich bisher, mit konkreten, international koordinierten Gegenmaßnahmen wie etwa einem Stopp des Northstream-2-Projektes oder dem Ausschluss aus dem SWIFT-Zahlungsverkehrs für den Fall zu drohen, dass Russland seine Aggression gegen die Ukraine nicht einstellt. Folglich wurde auch vereinzelt Kritik an der gemeinsamen Stellungnahme beider Länder geäußert. Kritiker, wie der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff, werfen dem deutschen Außenminister vor, die tatsächlich Verantwortlichen durch übertrieben diplomatische Formulierungen zu verschleiern und den russischen Präsidenten damit geradezu dazu einzuladen, weiterhin destabilisierend auf die Lage in der Ukraine einzuwirken. Auch Norbert Röttgen (CDU) mahnt an, dass es nicht bei bloße Solidaritätsbekundungen bleiben dürfe.
Tatsächlich ist fraglich, ob Russland – gerade wenn man von der Theorie eines „Testballons“ ausgeht – diese Reaktion als deutlich genug einordnet. Würde es sich hierbei tatsächlich um einen Aufmarsch für eine größere Offensive handeln, so stünde dieser auf ukrainischer Seite kein wirksames militärisches Mittel entgegen und mit einer entschiedenen Antwort der Staatengemeinschaft wäre kurzfristig auch kaum zu rechnen. Eine Zusage, der Ukraine Verteidigungsmittel wie etwa Flug- und Panzerabwehrlenkwaffen zur Verfügung zu stellen, könnten den Preis eines möglichen russischen Angriffs zumindest deutlich in die Höhe treiben. Doch selbst wenn es sich bei dem derzeitigen Aufmarsch nur um einen Bluff handelt: Es besteht die Gefahr, dass Russland damit die aktuelle Lage weiter befeuert und die vermeintlichen Separatisten für eine Eskalation der Situation nutzt. In jedem Fall hat Moskau ein Interesse daran, den offenen Territorialkonflikt aufrecht zu erhalten. Der Zustand einer „stabilen Instabilität“ garantiert Russland, dass es auch weiterhin nicht zum von Präsident Selenskjy gewünschten NATO-Beitritt der Ukraine kommen wird. Aber auch innenpolitisch profitiert Putin von einer geschwächten Ukraine. Solange sie erfolglos bleibt, dient sie ihm als mahnendes Beispiel vor einem Politikwechsel im eigenen Land.
Im Umkehrschluss könne eine klare Festlegung auf weitere Sanktionen im Falle einer fortgesetzten Eskalation dazu beitragen, mäßigend vor allem auf Russland einzuwirken. Der russische Präsident hat sich in der Vergangenheit als kühler Taktiker erwiesen, der sein Handeln rational abwiegt und den zur Verfügung stehenden Handlungsrahmen voll ausschöpft. Solange die zu erwartenden Kosten niedriger als der Nutzen für Russland sind, wird er die Spirale der Eskalation weiter drehen. Dennoch ist auch er politischen Zwängen unterworfen. Sein Land ist von der Corona-Pandemie stark betroffen und weist aktuell – trotz „Sputnik V“ – eine der höchsten Übersterblichkeitsraten der Welt auf. Auch der russischen Wirtschaft geht es schlecht. Verglichen mit dem Vorjahr hat der russische Rubel gegenüber dem Euro rund 15% an Wert eingebüßt. Der Präsident kann daher Erfolgsmeldungen – oder eine militärische Ablenkung – derzeit im eigenen Interesse gut gebrauchen. Schließlich könnte eine verschärfte Wirtschaftskrise den Unmut in der Bevölkerung, der sich zuletzt in den Protesten gegen den Umgang mit Kreml-Kritiker Navalny und der Absetzung eines Gouverneurs in der östlich gelegenen Großstadt Chabarowsk geäußert hatte, erheblich steigern und damit auch Putins Macht gefährden. Gibt man Moskau unmissverständlich zu verstehen, dass man im Falle einer militärischen Konfrontation zumindest alle politischen und wirtschaftlichen Optionen konsequent ausschöpfen wird, würde dies die Kosten/Nutzen-Relation merklich verschieben. Dies könnte möglicherweise ein Einlenken bewirken und eine drohende militärische Auseinandersetzung verhindern.
Aus europäischer Sicht geht es dabei nicht um einen Machtkampf mit Russland, sondern um die Frage, ob die EU als Akteur ernstgenommen wird – auch weil es seine eigenen Zusagen ernst meint. Mehr noch: Es geht um die Frage, ob internationales Recht auch in Zukunft Bestand haben soll oder das Recht des Stärkeren an seine Stelle tritt. Wäre Letzteres der Fall, kämen wir langfristig gar nicht um eine stärkere militärische Präsenz umhin. Ist diese Frage allerdings unmissverständlich zugunsten des Völkerrechts geklärt, kann auch Russland wieder ein fester Bestandteil der europäischen Staatengemeinschaft und Partner in internationalen Fragen sein. In diesem Fall könnte man im Gegenzug für eine Deeskalation konkrete und gesichtswahrende Angebote unterbreiten, die eine Chance bieten, abgerissene Gesprächsfäden wieder aufzunehmen und eine Lösung des Konflikts im Rahmen des Normandieformats zu suchen. Doch dies wäre der zweite Schritt vor dem ersten. Für den Moment darf die westliche Staatengemeinschaft keinen Zweifel daran bestehen lassen, dass es im Ernstfall der bedrohten Ukraine zur Seite stehen wird – auch wenn man dafür einen eigenen Preis zahlen muss.
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